Bereits der erste, flüchtige Blick befremdet und verunsichert; wir sehen das Bild nicht wie gewohnt senkrecht an der Wand hängen, sondern es liegt waagerecht im Raum. Hinzu kommt, dass der Künstler die Unterseite des Werkes zur Oberfläche gewendet hat. Und nicht zuletzt irritiert der Malgrund; er ist nicht Leinwand oder Papier, sondern Gips, der in seinen Unebenheiten das Bild zum Relief changieren lässt.
Das neueste Werk von Br. Stephan Oppermann OSB stellt nicht nur unsere Sehgewohnheiten in Frage, sondern beunruhigt, verwirrt, verunsichert, weil alles etwas anders, alles etwas ungewöhnlich ist, alles fragwürdig erscheint. Damit greift es unser Lebensgefühl auf, das durch den „Ostwind“ noch einmal verstärkt und gesteigert herübergeweht worden ist. Denn die schrecklichen Geschehnisse im Osten Europas, der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine, bestürzen und verwirren, verursachen Perspektivwechsel und „Zeitenwenden“.
Damit ist das Thema des Kunstwerkes gleichzeitig genannt, denn es geht um nichts Geringeres als um die je eigene Existenz des Menschen; im Schauen auf das vergoldete Bild spiegelt sich der Betrachter und mit ihm sein Leben. Die existentielle Wahrhaftigkeit wird durch den Künstler betont und festgehalten, indem er den heißen Gips auf (eigene) Blutstropfen gegossen und dadurch chemische Prozesse in Gang gesetzt hat. Dabei verweist das verwendete Gold sowohl auf den göttlichen Urgrund des Menschen, als auch auf die Ikonen des Ostens. Die Scharten und Einschüsse, die sich als Linien und Kerben über das Bild ziehen, mögen dann die Herausforderungen des Lebens, seine Wechselfälle und Wendungen darstellen. Sie haben die
Farbe Blau und lassen mit dem Gelb des Goldes wiederum die ukrainische Flagge assoziieren, die ihrerseits mit diesen Farben auf Himmel und Erde (Weizenfelder) verweist.
Auf diese Weise greift das Bild die unüberbietbare Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit unserer Existenz auf. Wir erkennen uns als den heutigen Menschen mit seinen Fragen und Nöten, in seiner existentiellen Verunsicherung. Aber es macht auch deutlich, dass das Leben immer wieder Antworten und Lösungen eröffnet hat. In Zeiten, in denen diese Zuversicht kaum mehr gespürt wird, gilt es wider alle Hoffnung zu hoffen oder in einer bildlichen
Formulierung: Es gilt dem Ostwind zu trotzen.
Klaus Hurtz