Die allgemeine Ungewissheit über den Fortgang der Welt ist so groß wie lange nicht. Die Lage ist in gleich mehrfachen Hinsichten dramatisch, ernst. Die Künste scheinen auf dieser Folie zur Marginalisierung verdammt, es sei denn, sie gerierten sich fortan nurmehr politisch. Kann man überhaupt Kunst machen in einer Zeit, die nach Einhalt in so mannigfacher Weise ruft? Die Antwort, die Iris Stephan an diesem Punkt der Ent- und Verwicklungen einer Welt gibt, deren Gewissheiten sich nach und nach vor unser aller Zeugenschaft pulverisieren, lautet eindeutig: Ja!
So entdeckt Iris Stephan in ihrer neuen Werkreihe „Frostkeimer“ scheinbar geschlechtslose Wesen einer unbekannten Spezies. Sie hat Frostkeimer zum ersten Mal im Zuge des Schmelzens des Permafrostbodens in den Weiten der Tundra beobachtet und war dabei der erste Mensch, dem dies gelang. Einige Frostkeimer sehen aus wie dismorphe, einäugige Kuscheltiere. Sind sie völlig harmlos oder gefährlich? Wie entstehen diese Wesen? Sind es somatische Beobachtungs-Organe aus hochtechnisierten Laboren einer vergangenen Welt? Oder seit Jahrmillionen verborgen gebliebene Überträger-Organismen aus dem Weltall? Was erzählt Iris Stephans Fabel über ihre Frostkeimer, was weiß oder ahnt die Künstlerin, und welche Vorstellung steht hinter der Entwicklung einer Spezies aus lauter Neutra?
Eine mögliche Variante der Fabel geht so: In Zeiten, in denen die Modi des Überlebens der Menschheit neu ausgehandelt bzw. gänzlich infrage gestellt werden, wo so etwas wie überbordendes Chaos sich breitmacht, alte Übereinkünfte ihre Gültigkeit verlieren, da werden starke, intelligente Überlebensstrategien darüber entscheiden, wie und ob es überhaupt weitergeht. Der Frostkeimer ist eine Lebensform, die nach Äonen der Starre im ewigen Eis den Planeten bevölkert. Es scheint gewiss: Entstehen können sie nur vermittelst der Kälte, der sie während ihrer Ontogenese ausgesetzt sind, die Kälte ist unabdingbare Voraussetzung ihres Gedeihens. Was geschieht also mit ihnen – vorausgesetzt, sie sind keine neuen Invasoren – wenn ihr natürliches Lebensumfeld eines Tages keinen Bestand mehr haben sollte, was wird aus dieser gerade entdeckten Spezies, deren Erforschung in ihren Anfängen steckt?
Iris Stephans seit langem spielerischste, erneut an magische Erzählstrukturen anschließende Werkreihe beweist ein weiteres Mal ein wiederkehrendes Signum all ihrer narrativen, sequenziellen Arbeiten: die fein gesponnene Auslotung der Schnittstellen von (oftmals Galgen-) Humor und tiefem Ernst in jeder einzelnen ihrer Konzeptionen. Sie mahnt uns überdies zu einer tiefgreifenden Achtsamkeit gegenüber allen Wesen und Lebensformen, so unbekannt und beängstigend sie zunächst für uns erscheinen mögen. Und auch davon erzählen Iris Stephans Frostkeimer: Der Wert einer Spezies bemisst sich nicht nach unseren Interpretationen ihrer Bedeutung für uns, sondern ist unhintergehbar und unzweifelbar ein Wert jeder Lebensform an sich. An nichts weniger wollen Iris Stephans mysteriöse Frostkeimer mit all den Fragen, die ihre „Entdeckung“ für uns aufwerfen, erinnern.
Text © VG – WORT / phenomenon_corporation 2022 / Andreas Richartz

  • Titel Die Frostkeimer
  • Jahr 2022
  • Ausführung Objektgruppe aus 8 Werken, Kunstfell, Cellulose, alte Puppenklappaugen
  • Größe verschieden